Wunden des Missbrauchs

Mysterious Skin

Die Seele eines Kindes kann leicht traumatisiert werden.

Irgendwo in der amerikanischen Provinz wachsen zwei Jungen in derselben Kleinstadt auf. Im Alter von acht Jahren machen beide einschneidende Veränderungen. Der eine kommt mit blutender Nase im Keller seines Wohnhauses zu sich und hat keinerlei Erinnerung an die letzten fünf Stunden. Als sich solche Ereignisse wiederholen, reift in dem Jungen langsam der Glaube, er werde von Außerirdischen entführt, die Untersuchungen an ihm vornehmen. Seltsame Träume bestärken ihn in der Ansicht, so dass die Ergründung der verborgenen Ereignisse fortan sein asexuell geprägtes Leben bestimmt. Der andere wird durch den Coach des Baseballteams in eine Beziehung gelockt, die schließlich die Grenze einer intensiveren Freundschaft verlässt und in sexuelle Handlungen mündet. Ein paar Jahre später sucht er die örtliche Cruising-Zone auf, um sich an schwule Freier zu verkaufen. Sein Leben ist fortan durch die ständige Hingabe seines Körpers an zahlungswillige Kunden geprägt.

„Mysterious Skin“ gehört zu den Filmen, die sich anschleichen, um zwiebelartig immer weitere Details zu enthüllen, die das Geschehen zu einer kontinuierlich intensiver werdenden Erfahrung machen. Dabei schafft es Regisseur Gregg Arakai schon innerhalb des ersten Bildes die schwelende Spannung anzulegen, welche den weiteren Film prägen wird. Basierend auf Scott Heims Roman entfalten die ersten Sätze, in denen ein achtjähriger Junge von seiner fünfstündigen Amnesie berichtet, in Verbindung mit dessen äußerem Erscheinungsbild eine suggestive Kraft. Der Junge wirkt mit seiner viel zu großen Brille und den großen Augen etwas tapsig und erfüllt damit die notwendigen Bedingungen für ein unschuldiges, niedliches Kind. Die Amnesie sowie die blutende Nase bilden jedoch einen Kontrast, der befürchten lässt, dass hier etwas Unangenehmes schlummert. Bis zum Schluss schildert der Film das jedoch nicht, sondern konzentriert sich auf die Auswirkungen auf das weitere Leben des Jungen, der verzweifelt zu ergründen sucht, was mit ihm nicht stimmt. Seine UFO-Gläubigkeit bildet ein berührendes Ventil seiner Psyche, die das „schwarze Loch“ der Erinnerung mit einem Inhalt füllen muss, um nicht völlig zu zerbrechen. Der Anblick der seelischen Wunde, die in jeder Szene physisch spürbar ist, verleiht „Mysterious Skin“ seine zwingende Atmosphäre. Es ist stets klar, dass der Junge in einem Verdrängungsprozess steckt, welcher sein komplettes Leben bestimmt. Hilflos folgt man als Zuschauer den Ereignissen, ohne Eingreifen zu können. „Mysterious Skin“ besitzt so etwas wie Suspense der Psyche.

Ganz anders entwickelt sich die zweite Geschichte, die nicht minder intensiv wirkt, da der Junge als Heranwachsender zunehmend Züge einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt. Ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit stürzt er sich in seine sexuellen Abenteuer, indem er sich an schwule Freier verkauft. Zu Beziehungen ist er unfähig, das gilt sowohl für eine mögliche Partnerschaft als auch für Freundschaften, die von seiner Seite aus in autonom-rüder Weise geführt werden. Gregg Araki baut beide Geschichten mit einem sensiblen Gespür für die Thematik auf, um sie in einem brillanten Finale zusammen zu führen, das die emotionalen Stärken der bisherigen Laufzeit potenziert. Zurück bleibt Seelensplatter, bei dem das fragile Gebilde Schicht für Schicht abgetragen und zerschnitten wird, bis die darunter liegende Ursache in ihrer ganzen Dimension sichtbar ist.

Bildqualität

Die Vorlage des aktuellen Films bietet erwartungsgemäß ein störungsfreies Bild ohne Verschmutzungen und Defekte. Die Schärfe überzeugt durch ein detailreiches Bild ohne nennenswerte Schwächen. Das gleiche gilt für die kräftigen Farben sowie den Kontrast, der auch in dunklen Szenen keine Details verschluckt. Rauschmuster treten nicht auf.

Tonqualität

Auch der Ton liefert eine erwartungsgemäße Qualität. Genrebedingt können die 5.1-Spuren zwar kein räumliches Feuerwerk entfachen, aber das müssen sie bei dem intensiven Drama auch nicht. Dennoch vermag die Musikwidergabe mit ansprechendem Volumen zu überzeugen. Die Dialoge sind klar und verständlich. Störendes Rauschen tritt nicht auf.

Extras

Der Audiokommentar mit Gregg Araki (Regie), Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbett (beide Darsteller) fällt etwas durchwachsen aus. Recht häufig gleiten die drei in Schilderungen harmloser Anekdoten vom Set ab, um dann plötzlich den Stil des Films zu analysieren. In den Ausführungen über die Machart des Films gehen Araki und seine Mitstreiter auf die Kameraarbeit sowie die inszenatorische Umsetzung des schwierigen Themas ein. Letzteres ist sehr interessant, die Anekdoten sind im besten Fall launig, teilweise aber auch nur von privatem Interesse für diejenigen, welche sie erzählen.

Das 22minütige Interview mit Regisseur Gregg Araki geht wie das 25minütige Interview mit dem Autoren des zugrunde liegenden Romans Scott Heim weit über das Niveau üblicher PR-Gespräche hinaus. Araki äußert sich detailliert über sein Interesse an dem zugrunde liegenden Thema, erläutert, wie er den Roman in seine Filmsprache übersetzt hat, und spricht über die Dreharbeiten. Scott Heim erzählt etwas über seine literarische Arbeit, geht auf die Entstehungsgeschichte des Romans ein und setzt den fertigen Film in Beziehung zu seinem Buch. Beide Interviews bieten einen lohnenswerten Einblick in das künstlerische Schaffen, das „Mysterious Skin“ zugrunde liegt.

Das etwa 15minütige Interview mit den beiden Hauptdarstellern Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbet ist etwas schwächer lohnt aber ebenfalls einen Blick. Beide äußern sich über ihre Sichtweise auf das heikle Thema, reflektieren die Dreharbeiten und loben Gregg Araki. Die Aufnahmen vom London-Filmfestival 2004 (13 Minuten) zeigen Gregg Araki und Scott Heim, die auf der Bühne interviewt werden. Dabei erzählen sie kaum etwas, was nicht in den längeren Interviews bereits gesagt wurde.

Hinter „Vorlesung mit Brady Corbet und Joseph Gordon-Levitt“ (fünf Minuten) verbergen sich Aufnahmen der beiden Hauptdarsteller, die jeweils einen kurzen Abschnitt aus dem Roman „Mysterious Skin“ vortragen. Einzelne Passagen werden durch Filmausschnitte der Adaption illustriert. Der Trailer rundet das Bonusmaterial ab.

Fazit

„Mysterious Skin“ meistert souverän die schwierige Auseinandersetzung mit dem heiklen Thema Kindesmissbrauch. Mit eindrucksvollem Gespür für psychologische Zusammenhänge widmet sich der Film den Folgen sexuellen Missbrauchs, indem er die späteren Erlebnisse der betroffenen Kinder in den Mittelpunkt rückt. Technisch ist die DVD gut. Das Bonusmaterial überzeugt mit leichten Schwächen.

Stefan Dabrock

   
Originaltitel Mysterious Skin (USA 2004)
Länge 105 Minuten (Pal)
Studio i-on new media im Vertrieb der Splendid
Regie Gregg Araki
Darsteller Joseph Gordon-Levitt, Brady Corbet, Bill Sage, u.a.
Format 1:1,85 (16:9)
Ton DD 5.1 Deutsch, Englisch
Untertitel Deutsch
Extras Audiokommentar mit Gregg Araki (Regie), Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbett (beide Darsteller), Interviews, u.m.
Preis ca. 18 EUR
Bewertung sehr gut, technisch gut