Die grausame Dynamik der Kraftlosigkeit

An American Crime

An American CrimeWas die in ihren eigenen vier Wänden treiben, geht uns nichts an. Ein Leitsatz, der für die amerikanische Gesellschaft noch viel stärker gilt, als für unser Gemeinwesen, das davon aber auch nicht frei ist. Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft löst in diesem Verständnis ihre Konflikte intern. Da mischt man sich nicht ein, und das ist ein Aspekt der Kraftlosigkeit, die letztlich das Verbrechen an Sylvia Likens möglich machte. Die 16jährige Sylvia wird zusammen mit ihrer Schwester Jennie im Jahr 1965 von ihren Eltern der Pflegemutter Gertrude Baniszewski übergeben. Sylvias Eltern ziehen als Schaustellerpaar von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und können sich deswegen nicht genügend um die Kinder kümmern. Gertrude Baniszewski nimmt die Likens-Schwestern für 20 Dollar in der Woche auf. Sie selbst ist alleinerziehende Mutter von sieben Kindern. Das Geld kann sie bei ihren finanziellen Sorgen gut gebrauchen. Zunächst gelingt das Zusammenleben in dem kleinen Haus recht gut, da sich die Likens-Schwestern mit den anderen Kindern gut verstehen. Nachdem Sylvia unbedachter Weise die Schwangerschaft einer der Baniszewski-Töchter verraten hat, um sie während einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem möglichen Vater zu schützen, entstehen erste Spannungen. Gertrude Baniszewski bestraft das junge Mädchen für die „Lügen“, wie sie sagt. In der Folge kann Sylvia nichts mehr richtig machen, so dass sich die „Erziehungsmaßnahmen“ immer weiter steigern, bis sie schließlich in den Keller gesperrt wird. Dort foltern die Kinder Gertrudes sie selbst und später sogar die Nachbarskinder Sylvia langsam zu Tode.

Regisseur Tommy O'Haver verzichtet bei der Inszenierung auf jegliche Form spekulativer Gewalt, um sich auf die stetige Chronologie des Schreckens sowie die vielen Details zu konzentrieren, welche als dynamische Kräfte gewirkt haben. Dabei verzichtet O'Haver auf einfache Ursache-Wirkungs-Ketten, die zwar in ihrer Klarheit etwas tröstliches hätten, um die Ereignisse zu verstehen, aber letztlich zu kurz greifen würden. Stattdessen entfaltet er ein Geflecht diverser Einflussgrößen, die anteilig mit dem Geschehen verknüpft sind. Dadurch An American Crime erklärt er zwar nicht abschließend die Tat, vermag aber den Finger in zahlreiche Wunden zu legen. Das religiös-baptistische Umfeld der Kleinstadt – sowohl die Baniszewskis als auch die Likens-Schwestern gehen regelmäßig in die Kirche – entfaltet eine Gottesfürchtigkeit, die den Einzelnen einer mächtigen Autorität unterordnet. Der dadurch entstehende Druck fließt in die Familienorganisation ein, in der die Eltern eine unangefochtene, autoritäre Rolle einnehmen. Wenn dann die Aufteilung der Macht nicht mehr möglich ist, da wie im Fall der Baniszewskis der Vater nicht mehr Teil der Familie ist, dann kann sich eine gottähnliche Übersteigerung ausbilden.

Gertrude Baniszewski lässt mit ihren oftmals einberufenen Familienkonferenzen keinen Zweifel, dass es ihr darum geht, Stärke zu zeigen. Denn die vor den Augen aller Familienmitglieder zelebrierten „Erziehungsmaßnahmen“ gegenüber Sylvia erfüllen den Zweck einer abschreckenden Machtdemonstration. Es geht nicht darum, jemanden in seiner Entwicklung zu fördern, sondern darum, mit der Demütigung die eigene Position zu stärken. Denn Gertrude schafft es nur mit Mühe, für sich und die Kinder zu sorgen. Sozialstaatliche Förderung existiert nicht, so dass die alleinerziehende Mutter völlig auf sich allein gestellt ist. Ihre einzige Chance ist der marktwirtschaftliche Weg, der sie unter anderem zur Pflegemutter werden lässt. Die Kraftlosigkeit des Staates im Umgang mit sozialen Problemen spürt sie am eigenen Leib. Dabei fehlt ihr die Kraft, den religiösen sowie den wirtschaftlichen Druck selbst zu tragen, nachdem schließlich noch moralischer Druck entsteht. Denn die Schwangerschaft ihrer Tochter macht in der kleinen Stadt schnell die Runde, so das unangenehmes Gerede entsteht. Da die Blutsfamilie zwar mit strenger Hand geführt wird, aber letztlich heilig ist, kommen die Likens-Schwestern gerade recht, um scheinbare Stärke zu demonstrieren, die doch nur Ausdruck der eigenen Kraftlosigkeit ist. Und so nimmt das Unfassbare seinen Lauf, indem die körperlichen Strafen für Sylvia immer weiter an Härte zunehmen.

Die Schreie dringen mit gellender Intensität nach draußen, aber sie werden nur wahrgenommen, nicht erhört. Dabei wird das Haus der Baniszewskis oftmals in einer Totalen gezeigt, in der es wie ein undurchdringlicher Panzer wirkt. Hinter der Eingangstüre endet der äußere Einflussbereich, da der An American Crimefamiliäre Kernbereich weitgehend eine Tabuzone darstellt. Die Kamera fängt Nachbarn sowie Passanten ein, welche die Schreie hören müssen, aber nicht tätig werden. Ihre Kraftlosigkeit hindert sie daran, das traditionelle Familienbild, dem sie selbst ja auch verhaftet sind, anzugreifen. Das alles führt dazu, dass die Folterungen erst im Kreis der Familie den Status völliger Normalität erreichen und später auch im nachbarschaftlichen Umfeld. Sylvia wird wie ein Jahrmarktsfreak zur grotesken Attraktion. In einer Gegend, die nur wenig Freizeitbeschäftigungen anbietet, ist Sylvia eine willkommene Abwechslung. In der Masse der Gruppe bleiben die einzelnen Täter anonym, da jeder mitmacht. Sylvia verliert in den Augen ihrer Umgebung ihren menschlichen Charakter, sie erscheint als Versuchspuppe. Die langsame, unaufhörliche Entwicklung verleiht „An American Crime“ eine unerträgliche Intensität.

Als Zuschauer spürt man die eigene Hilflosigkeit und muss sich gleichzeitig fragen, ob man selbst aufmerksamer gewesen wäre. Aber auch darauf gibt es keine einfache Antwort, so wie der Film mit seiner komplexen Struktur eines Ursachengeflechts keineswegs darauf angelegt ist, Gertrude Baniszewski sowie die übrigen Beteiligten von ihrer Schuld freizusprechen. Denn Kraftlosigkeit ist kein Naturgesetz. Zu jeder Zeit hätten sich Möglichkeiten geboten, einzugreifen. Die Verantwortung dafür, sie nicht genutzt zu haben, kann einem niemand abnehmen.

Bildqualität

Der aktuelle Film wurde erwartungsgemäß ohne Defekte oder sonstige analoge Störungen auf die DVD übertragen. Die gute Schärfe trennt Konturen klar ab und liefert ein detailreiches Bild, dessen Kräftige Farben überzeugen. Der ausgewogene Kontrast tut sein Übriges zum erfreulichen Gesamteindruck. Das leichte Blockrauschen stört kaum.

Tonqualität

Die beiden 5.1-Spuren besitzen rauschfreie, klar verständliche Dialoge, wobei die deutsche Synchronisation ein wenig künstlicher wirkt. Genregemäß haben die hinteren Lautsprecher nur wenig zu tun, schalten sich aber im entscheidenden Moment immer wieder ein. Der DTS-Ton ist ein wenig wuchtiger – soweit man das sagen kann – aber nicht besser.

Extras

Das Bonusmaterial besteht aus dem Trailer.

Fazit

„An American Crime“ zeichnet den authentischen Kriminalfall mit ruhiger, aber stetiger Dramaturgie nach, so dass eine nahezu unerträgliche Intensität entsteht. Dabei verweigert Regisseur Tommy O'Haver einfache Ursache-Wirkungs-Ketten, um eine Vielzahl an gesellschaftlichen Schwächen offen zu legen, welche die Tat mitbefördert haben. Ein großartiges Werk. Technisch ist die DVD gut.

Stefan Dabrock

   
Originaltitel An American Crime (USA 2007)
Länge 93 Minuten (Pal)
Studio Capelight
Regie Tommy O'Haver
Darsteller Ellen Page, Catherine Keener, Hayley McFarland, Evan Peters, u.a.
Format 1:2,35 (16:9)
Ton DTS Deutsch, DD 5.1 Deutsch, Englisch
Untertitel Deutsch
Extras Trailer
Preis ca. 18 EUR
Bewertung ausgezeichnet, technisch gut